Bouldern: Eisiges Klettern über dicker Matratze
Der Winter reizt eher als dass er stört: Peter Schneider aus Nürnberg hangelt sich ohne Seil am Fels entlang
  
Das Thermometer verharrt konstant unter dem Gefrierpunkt. Der Atem entweicht in einer gleichmäßig rauchigen Wolke. Schnee bedeckt die Erde, soweit das Auge reicht. Für die meisten ist die einzige Aktivität bei dieser Witterung ein entspannender Spaziergang durch die Wälder. Doch nicht für den Nürnberger Peter Schneider. Den 45-Jährigen treibt ein ganz anderes Vergnügen, das Bouldern.

PEGNITZ — Ein rauer Felsen, irgendwo in der Nähe von Pegnitz. Peter Schneider hat sich diesen Felsen vor rund fünf Jahren als sein Refugium ausgesucht. Er erzählt keinem davon. Denn die Kletterszene soll hier nicht den Massenauflauf starten.

Aber ganz in der Nähe sind auch junge Amberger aktiv. Dumpf dröhnt immer mal wieder ein Aufprall durch die Winterstille. Es ist das typische Boulder-Geräusch. Der Fall vom Fels in Schaumgummi.

Gefunden hat Peter Schneider seinen Stein bei einer seiner zahlreichen Touren quer durch die Fränkische Schweiz. Bedächtig schnallt er sein rucksackähnliches Gebilde vom Rücken ab, ein dickes Schaumgummiquadrat, und öffnet es. Zum Vorschein kommt eine Art übergroße Isomatte, die nach ihrer Entfaltung allerhand Utensilien preisgibt. Zwei Paar flexible Kletterschuhe, eine Dose mit weißem Pulver, eine Zahnbürste und eine Thermoskanne mit dampfendem Tee liegen nun auf dem Boden.

Peter Schneider legt sich die Matte unter den Felsen und betrachtet ihn eine Weile. Schließlich greift er zur Zahnbürste und schrubbt behutsam über seltsam weiß aussehende Stellen am Fels.

„Das sind meine Griffe und Tritte, an denen ich mich entlang hangele“, erklärt er schließlich. Die weiße Färbung kommt vom Talkumpuder, dass er sich in regelmäßigen Abständen auf die Handflächen streut.

Mit der Zahnbürste wird vorsichtig der Schmutz an den Griffstellen entfernt. „Moos wird nur in Ausnahmefällen von den Felswänden entfernt und auch nur dann, wenn es sich um einfaches Moos handelt“, erklärt er.

Auf eine Drahtbürste zum Putzen der Felswand verzichtet er ganz, denn der Schutz der Natur steht für ihn an oberster Stelle. „Ich habe schon viele Gespräche mit Umweltschützern geführt. Aber nachdem sie mir beim Klettern zugesehen haben, waren die meisten Zweifel weg.“ Auch die weißen Stellen am Fels sind nicht von Dauer. Beim nächsten Regen wird das Talkumpuder wieder abgewaschen.

Nach gut 20 Minuten hat Peter Schneider seinen „Weg“ quer über den Fels gesäubert und er zieht seine Kletterschuhe an, die er vorher unter seinem Pullover aufgewärmt hat.

An seinen Händen sind noch deutlich die Spuren der letzten Kletterversuche zu sehen. Neben dicken Schwielen zeichnen sich die unverkennbaren Hautrisse eines Kletterers ab. Die gröbsten Stellen werden flugs mit Klebeband abgedeckt. Nun kann der erste Versuch des Tages losgehen.

Bouldern unterscheidet sich schon auf den ersten Blick vom normalen „Klettern“. Beim Bouldern werden keinerlei Seile oder Haken benötigt. Es ist eine Art Freiklettern in geringer Höhe, wo das Runterfallen nicht schmerzt. Dafür liegt ja die Matte am Boden.

Erfunden wurde diese einfache Trainingsmöglichkeit ohne störende Höhenangst angeblich 1930 von Parisern, die sich in den Felsblöcken (englisch: boulder) von Fontainebleau für die Alpen fit machten. Der Amerikaner John Gill verfeinerte diese Technik dann in den siebziger Jahren, woraufhin sie weltweit bekannt wurde.

„Beim Bouldern kommt es nicht darauf an, wie hoch man klettert, sondern welche Schwierigkeit man bei den Griffen und Tritten wählt“, erklärt Peter Schneider. Gestartet werden die Klettergänge in der Regel im Liegen.

Unter einem kleineren Vorsprung geht es nun los. Peter setzt zum ersten Zug an. Dabei hat er sich eine besondere Schwierigkeit ausgesucht, die er schon seit einigen Tagen probiert.

Mit einer speziellen Fußtechnik versucht er, die erste Hürde zu nehmen. Doch schon nach wenigen Sekunden muss er abbrechen. Die Ferse hat in dem kleinen Felsspalt nicht gehalten.

„Das ist das schöne an diesem Sport. Ein etwas größerer Kletterer hätte damit vielleicht keine Probleme. Aber für mich ist es eine besondere Herausforderung.“

Nach einer kurzen Pause wird der zweite Versuch gestartet, doch auch der misslingt. Peter landet wieder auf seinem so genannten „Crash-Pad“.

Die Kraftanstrengung, die für diesen Sport nötig ist, sieht man ihm an. Er muss erst einmal pausieren bei einem Becher Tee.

Harte Winterhaut hilft

Aber warum klettert er nicht im Sommer, wie man es erwarten würde, sondern bei eisigen Temperaturen? „Im Winter hat man einen besseren Griff. Das hängt mit der Reaktion der Hautoberfläche zusammen. Im Sommer sind die Hände weich und leicht feucht, im Winter kann man sich besser am Felsen halten.“

Nach kurzer Erholung versucht er es erneut. „Wenn ich mir eine Route in den Kopf gesetzt habe, dann will ich die auch schaffen. Das kann schon mal ein oder zwei Wochen dauern“, erklärt er. Also noch öfter in den Zug, noch öfter mit dem VGN nach Pegnitz.

Aber diesmal klappt es. Seine Ferse hält im Spalt und Peter Schneider kann sich Zug um Zug quer über den Felsen hangeln, bis zu einem vorher festgelegten Endpunkt.

„Ob man sein Ziel beim Bouldern erreicht, hängt oft von der Psyche ab. Man fühlt sich topfit, aber der Versuch will einfach nicht klappen. Jetzt hat es aber zum Glück funktioniert. Jetzt brauch ich eine neue Schwierigkeit.“

Sichtlich zufrieden und erschöpft betrachtet er seine Hände. An manchen Stellen tropft schon wieder Blut. Doch das bemerkt er nur am Rande. Schon seit 17 Jahren klettert Peter Schneider über die Felsen der Republik. Wie die meisten anderen fing er mit dem normalen Seilklettern an.

„Dazu benötigt man aber immer viel Ausrüstung wie Seile, Haken, Klettergeschirr und einen zweiten Kletterer, der sichert. Das hat mich mit der Zeit ein wenig gestört. Beim Bouldern kann ich auch mal alleine losziehen und Spaß haben. Bouldern ist ein Sport, den man auch noch in meinem Alter ausüben kann“, lacht er. „Es geht hier mehr um statische Kraft. Die kann man auch noch mit 45 haben.“

Auch zu Hause kann er selten von seinem Hobby abschalten. „Manchmal liege ich in der Badewanne und grüble, wie ich die Schwierigkeit, die ich mir gesetzt habe, am besten bewältige. Wenn du einmal soweit bist, dann weißt du, dass dich das Boulder-Fieber gepackt hat.“

Nach rund zwei Stunden Klettern ist Schluss. Die Kraft raubende Anstrengung verlangt ihren Tribut.

Sorgfältig wird die Ausrüstung wieder auf die „Crash-Pad“ genannte Isomatte gelegt, die sich wie ein Rucksack verschnüren lässt. Noch einmal wird der Boden untersucht und die letzten Reste Isolierband und sonstiger Kleinmüll aufgesammelt.

Auf der Heimfahrt grübelt er dann schon wieder nach, welche Route über den Fels er beim nächsten Mal in Angriff nimmt. OLIVER WINKELMAIER
4.2.2006 0:00 MEZ
 
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