Seit 130 Jahren wird in der Wiege des Boulderns angezogen, die erste 8A Fontainebleaus hat auch schon 33 Jahre auf dem Buckel. Doch selbst in Zeiten des neunten Bleaugrades bleibt Jacky Godoffes C’était demain eine schwer zu knackende Nuss.

Eine Frage des Stils

Knapp 250 Gebiete, annähernd 30.000 Probleme: Mehr Bouldern geht nicht, nirgends! Wer zum ersten Mal von Fontainebleau in den „Forêt Domaniale“ fährt, sieht allerdings vor lauter Wald die Blöcke nicht und fragt sich, wo zwischen all dem Grün das Grau des berühmten Bleau’schen Sandsteins auftauchen soll. Erreicht man dann den Parkplatz des traditionsreichen Gebiets Bas Cuvier, ragt plötzlich nur wenige Meter vor der Windschutzscheibe der erste Boulder im lichten Mischwald empor. Dahinter warten tausende Blöcke, und überall sind Chalkspuren zu sehen. Willkommen im Boulderparadies!

Jakob Schubert und Anna Stöhr in Fontainebleau (c) Rainer Eder
Jakob Schubert und Anna Stöhr in Fontainebleau (c) Rainer Eder

„In Bleau fühle ich mich wie ein Kind in einem Spielzeugladen. Für mich ist es definitiv das beste Bouldergebiet der Welt!“, schwärmt die zweifache Boulder-Weltmeisterin und Mammut Pro Athletin Anna Stöhr. Auch Jakob Schubert, mehrfacher Weltcup-Gesamtsieger im Lead und Overall und ebenfalls Mitglied des Mammut Pro Teams, ist restlos begeistert: „Das Großartige an Bleau ist, dass es hier so viele unterschiedliche Stile gibt: Wenn du Crimps magst, gibt es genug Linien. Wenn du Sloper magst, ist es der beste Ort überhaupt. Für mich persönlich ist das Beste aber, dass es so viele technisch anspruchsvolle Boulder gibt. So viele knifflige Platten und Mantles wie in Bleau habe ich nirgendwo sonst gesehen.“

Jakob Schubert in Fontainebleau (c) Rainer Eder

Recht hat er! Nur mit roher Gewalt kommt man hier selten weit. Eine gute Fußtechnik ist unerlässlich, oft machen Nuancen bei der Verlagerung des Körperschwerpunktes den Unterschied zwischen Durchstieg oder Abflug. Ziehen, schieben, stützen, stemmen, pressen, tänzeln – in Bleau wird das komplette Bewegungsrepertoire abgefragt.

Für einen guten Grip auf dem feinkörnigen Sandstein sind jedoch die Bedingungen entscheidend, entscheidender als anderswo. Sloper, an denen man sich bei schwülen 20 Grad kaum festhalten kann, zeigen sich tags darauf bei 15 Grad und trockenem Wind regelrecht anhänglich.

Ein untrügliches Indiz für gute Bedingungen ist, wenn der Freudenruf der Locals – die sogenannten „Bleausards“ – durch den Wald hallt: „Ça colle!“ – es klebt!

Bouldern über drei Jahrhunderte

Anna Stöhr in Fontainebleau (c) Rainer Eder

Bleausards gibt es schon sehr lange. Die ersten belegten Kletteraktivitäten gehen auf die 1880er-Jahre zurück, die ersten Kletterclubs wurden anfangs des 20. Jahrhunderts gegründet. 1934 bescherte der berühmte Alpinist und Bleausard Pierre Allain dem Wald mit Angle Allain in Cuvier Rempart seine erste Fb 5+.

Wer heute an diesem für Bleau so typischen Boulder mit fehlenden Tritten und einer „offenen Tür“ kämpft, möge daran denken, dass der Erstbegeher ihn mit Espandrillos kletterte.

Anfang der 1940er entwickelte Allain dann den ersten modernen Kletterschuh, mit dem sein Freund René Ferlet 1946 in Bas Cuvier die erste 6A eröffnete: La Marie Rose. Kleine Randnotiz: Adam Ondra benötigte 2012 für beide Boulder mehrere Versuche, Probleme im achten Bleaugrad flashte er dagegen.

Für Anna Stöhr, die mit Tigre et Dragon (8A) auch schon einen Bleau-Achter auf dem Konto hat, sind es „nicht zuletzt die Bewertungen, die Bleau zu etwas Besonderem machen. Es kann schon passieren, dass ich einen Tag mit einer 7A-Platte zu tun habe.“

Für die erste 8A des Waldes sorgte Ende 1984 Jacky Godoffe. „Ich war damals beeinflusst von Reinhold Messners Buch ‚Der siebte Grad’ und wollte unbedingt in Fontainebleau – einem Gebiet, das für seine strengen Bewertungen bekannt ist – einen neuen Grad, den achten, einführen“, blickt der heute 60-Jährige zurück.

Namensgebend für den Boulder in Cuvier Rempart war ein anderes Buch, das Godoffe gerade gelesen hatte: der Science-Fiction-Klassiker „Looking backward“ von Edward Bellamy aus dem Jahr 1888, auf französisch: „C’était demain“ – Es war morgen. „Ich fand den Namen sehr symbolisch für einen Übergang von der Vergangenheit in die Zukunft“, erinnert sich Godoffe.

Jakob Schubert, Jacky Godoffe und Anna Stöhr in Fontainebleau (c) Rainer Eder
Jakob Schubert, Jacky Godoffe und Anna Stöhr in Fontainebleau (c) Rainer Eder

In den 1980er-Jahren herrschte generell Aufbruchstimmung. Eine neue Generation von Bleausards wie Marc Le Ménestrel, Alain Ghersen, Olivier Carrière, Jean-Baptiste Tribout und Jacky Godoffe ergänzten ihre klettertechnischen Fertigkeiten durch gezieltes athletisches Training. Zudem setzte eine Spezialisierung ein: Jean-Pierre Bouvier kletterte hauptsächlich Traversen, Le Ménestrel widmete sich technisch extrem anspruchsvollen Problemen, Ghersen suchte vor allem maximalkräftige Züge und Godoffe entwickelte eine Perfektion in schnellkräftigen Moves an runden Griffen.

Es war aber auch die Zeit, in der ein starkes Konkurrenzdenken aufkam. Man hütete seine Projekte und war eifersüchtig auf die Leistungen der anderen. „Wir alle hatten damals ein großes Ego, jeder wollte den härtesten Boulder des Waldes eröffnen. Ein beliebtes Spiel war, neue Boulder möglichst schnell zu wiederholen und abzuwerten. Dabei ging es nicht immer objektiv zu, aber es war definitiv stimulierend“, beschreibt Godoffe die damalige Szene.

Jakob Schubert in Fontainebleau (c) Rainer Eder
Jakob Schubert in Fontainebleau (c) Rainer Eder

Ein ganz spezieller Zug

C’était demain blieb von Abwertungen verschont. Die ersten Wiederholungen sicherten sich Marc Le Ménestrel und Alain Ghersen, beide bestätigten den Grad 8A. Später kam eine leichtere Variante (7C) hinzu, bei der die Kante links mitbenutzt wird, Sébastien Frigault verpasste dem Boulder noch einen Sitzstart (8A+). Allzuviele Wiederholungen hat C’était demain in den 33 Jahren seit der Erstbegehung aber nicht bekommen. Auf der Webseite bleau.info finden sich gerademal 18 registrierte Begehungen, nur zwei mehr als für das beliebte, aber deutlich schwierigere Problem Gecko assis (8B+). „Der Boulder ist nicht der attraktivste im Wald“, gibt Godoffe unumwunden zu.

Jakob Schubert und Anna Stöhr in Fontainebleau (c) Rainer Eder

Während Adam Ondra Gecko assis flashte, machte ihm C’était demain ordentlich zu schaffen. Auch Jakob Schubert hatte mächtig zu kämpfen. „Als ich den Boulder zum ersten Mal probiert habe, war ich mir nicht sicher, ob ich ihn überhaupt klettern kann“, erzählt der 26-Jährige und ergänzt: „Es geht eigentlich nur um einen Zug, den ersten. Du startest mit sehr hohen Startgriffen, was schon speziell ist. Ich brauche mindestens zwei Pads, um an die Startgriffe zu kommen. Du hast einen schlechten Tritt und musst einen Untergriff gut treffen, das ist ein sehr spezieller Move! Aber nachdem ich den Zug viele, viele Male probiert hatte, habe ich ihn unter Kontrolle gebracht. Ich bin ziemlich happy darüber!“

Für Anna gestaltete sich dieser Zug noch schwieriger. „Für mich ist der Tritt sehr niedrig, weshalb ich nach einer anderen Lösung gesucht habe. Ich denke, ich habe eine gefunden, die klappen könnte. Aber jetzt brauche ich eine Pause von diesem Zug! Ich habe ihn nun zwei Tage lang probiert und bin wirklich platt!“, gab sich die 29-jährige Tirolerin geschlagen. Aber nur vorerst: „Ich bin motiviert, ihn nochmal zu versuchen!“ Jacky Godoffe ist optimistisch: „Bislang gab es zwei Lösungen, mit Annas Version nun eine dritte. Ich denke, sie kann es so klettern!“

Der Wald ist für alle da!

Dass Anna dafür ein weiteres Mal nach Bleau fahren „muss“, wird sie nicht stören. Ein Dutzend mal war sie bisher schon dort, langweilig geworden ist ihr nie. „Ich versuche immer, auch mir bislang unbekannte Ecken zu erkunden – und noch nie war ich in einem Gebiet, in dem ich nichts Ansprechendes zum Klettern gefunden habe! Auch Parcours mache ich hin und wieder.“

Anna Stöhr in Fontainebleau (c) Rainer Eder

Diese sind eine weitere Besonderheit Fontainebleaus. Seit Fred Bernick 1947 die ersten Parcours eröffnete, ist ihre Zahl auf hunderte gewachsen. In Parcours sind zwischen 15 und 100 Boulder ähnlicher Schwierigkeit zusammengefasst und durchnummeriert. Die Farbe der Ziffern steht für das Schwierigkeitsniveau, das von Kinderparcours bis „extreme difficile“ reicht. Bedingt durch die lange Klettergeschichte Fontainebleaus und die sich über Jahrzehnte hinweg langsam steigernden Schwierigkeiten ist im Bereich Fb 2 bis Fb 6 die Auswahl an Parcours und Bouldern fast grenzenlos. Als geklettert gilt ein Parcour nur, wenn man alle Probleme an einem Tag schafft. Oft wird daraus eine tagesfüllende Mission, an deren Ende man so erschöpft ist wie nach einer großen Gebirgstour.

Neben dem tollen Ambiente, dem perfekten Sandstein und den unzähligen genialen Linien ist es vor allem dieses Riesenangebot an leichten Bouldern, das Bleau so einzigartig macht. Hier wird jeder glücklich, vom absoluten Anfänger bis zum absoluten Profi. Inzwischen sind es über eine Million Boulderer pro Jahr, hinzu kommen noch viele andere Naturliebhaber. Mit zehn bis elf Millionen Besuchern jährlich ist der Forêt de Fontainebleau der meistfrequentierte Wald Frankreichs.

Der enorme Andrang hinterlässt Spuren. Bei manchen Klassikern glänzen die Einstiegstritte schon jetzt wie polierter Marmor, an vielen Hängen ist Erosion ein großes Problem, manche Ecken des Waldes gleichen Müllkippen. Es wäre schon viel erreicht, würde jeder von uns einige simple Regeln beachten: Zum Beispiel auf den Wegen bleiben und die Sohlen der Kletterschuhe blitzblank säubern, bevor man losklettert. Dies verhindert, dass durch die Reibung von Sand auf Sandstein der Fels glattpoliert wird und steigert zudem die Durchstiegschancen.

Dass man keinen Müll in der Natur zurücklässt, sollte eigentlich selbstverständlich sein. Übrigens: Ein wenig Müll von anderen einzusammeln, ist eine effiziente Form der aktiven Erholung, die euer Karma für den nächsten Versuch enorm verbessert. Es liegt an uns allen, das Paradies zu erhalten! Fontainebleau forever!