"Sperrzone" (M9) am Staubbachwasserfalls in der Schweiz erstbegangen

Im
Februar 2006 gelang dem deutschen Extrembergsteiger und Eiskletterer
Robert Jasper und seinem Kollegen Markus Stofer aus der Schweiz die
erste Besteigung des berühmt-berüchtigten
Staubbachwasserfalles im Lauterbrunner Tal.

Berühmt wurde
der Staubbachwasserfall, schon lange bevor das Eisklettern erfunden
wurde, als einer der höchsten und  spektakulärsten
Wasserfälle der Alpen. Bereits 1799 reiste Johann Wolfgang von
Goethe an, um die 287 Meter frei abstürzenden Wassermassen im
Gedicht „Gesang der Geister über den Wassern“ zu
beschreiben. Dass das  Lauterbrunnertal ein Juwel in Sachen
Eisklettern ist, war mir schon länger klar. Ob der bedeutendste
der 72 Wasserfälle, der des Staubbaches,  kletterbar sein
würde war jedoch sehr unklar. Auf der Suche nach neuen

Herausforderungen
kam mir die Idee den Staubbach als Mixed Bigwall mal näher unter
die Lupe zu nehmen. Der untere Teil, reine Eiskletterei im Bereich WI
3-5, sah zwar nicht wirklich schwierig, dafür aber eher
gefährlich aus. Aufgrund der vielen Eiszapfen die wie Torpedos am
oberen Wandrand hängen und zum Überfluss auch noch
Mittagssonne abbekommen musste man hier sehr schnell sein. Das grosse
Fragezeichen der Route war die stark überhängende Felszone in
der Mitte und die riesigen Eispilze am Ausstieg.  Selbst bei minus
15°C schoss noch eine dicke Wasserfontaine hinunter ins Tal.

Anfang
Februar war es dann so weit. Die erste Erkundung verlief aber nicht
sonderlich erfolgreich. Wir hatten fünf Eisseillängen unter
uns und gerade als Markus die zwei Bolts für den Stand in den
brüchigen Schieferkalk gebohrt hatte, verabschiedete sich unsere
Bohrmaschiene, begleitet von etlichen Flüchen, in die Tiefe. Es
blieb nur der Rückzug!

Zu
meiner grossen Überraschung holt Markus sie aus der Eisschlagzone
und nach ein paar Funken und etwas Rrauch lief sie wieder einwandfrei.
Das nach dem 180 Meter Fall, unvorstellbar!

Die nächsten
Tage in der Route waren sehr mühsam. Die Kletterei  war
schwierig. Aber vor allem der Fels in Bhagirathi III Qualität
(=absoluter Bruch), verhindert ein schnelles Vorwärtskommen.
Absolutes Highlight war hier der sogenannte „dirt 10
pitch“,  ein 30 Meter Quergang, zwar nur M7+, aber das
dreckigste was man sich vorstellen kann. An einer Stelle trifft man im
Schieferbruch sogar noch auf Schwefelablagerungen. Nur im gefrorenen
Zustand ist das klettern zu verantworten. Auch so wurden unsere edlen
Gore Tex Klamotten arg in Mitleidenschaft gezogen. Durch interessante
Linienführung konnten wir die stark überhängende Zone
überlisten. Nach zwei sehr interessanten und anspruchsvollen
Drytooling Seillängen in bedeutend besserem
„Korallenriff-Fels“ erreichten wir die Eisbalkone. Mit
gemischtenGefühlen liessen wir die Bohrmaschine und das schwere
Material am Stand hängen, der Wetterbericht versprach anhaltende
Kälte, und ein paar Tage später wollten wir weitermachen.
Dass Eis sehr schnell schmelzen kann ist einem als Eiskletterer
besonders bewusst, aber es war ein so mühsames Unterfangen, immer
wieder das gesamte Material von unten herauf zu zerren.

Als
wir dann ein paar Tage später, früh um sechs, mit den
Stirnlampen am Einstieg standen, trauten wir unseren Augen nicht. Der
aufkommende Föhn war im Tal schon zu spüren. Der Wind blies
den Wasserstrahl 50 Meter talaufwärts, genau auf unsere Route. Das
Wasser lief uns in die Ärmel und schon nach der ersten
Seillänge waren wir durch und durch nass. Dass es so zu
gefährlich war, weiter hinauf zu steigen, war uns klar. Um nicht
Gefahr zu laufen, die Bohrmaschine erst im nächsten Winter bergen
zu können, versuchten wir noch am selben Tag von oben an die
Umkehrstelle abzuseilen. Dazu mussten wir aber noch eine Bohrmaschine
und Bolts organisieren. Dies gelang uns überraschenderweise
(samstagmorgens um 8 Uhr!) dank einem guten Freund in Interlaken.

Wieder
zurück im Tal ereichten wir die Ausstiegszone über einen
Wanderweg. Sperrbänder und Verbotstafeln wiesen auf ein
Betretungsverbot hin. Angeblich wegen Steinschlaggefahr für den
Wanderweg unter dem Wasserfall. Das gilt wohl nur für den Sommer,
da im Winter der natürliche Eisschlag  viel massiver war als
die paar Brocken Eis die einer oder auch viele Kletterer je in die
Tiefe beförderten hätten können. Weiter hiess es:
„Basejumping ist strengstens Verboten!“ Das brachte es wohl
eher auf den Punkt. 

Den ersten Absprung mit dem Schirm
wagte Xavier Bongard, der auch als Alpinist und Eiskletterpionier
Geschichte schrieb, und ein paar Jahre später ebendort ums Leben
kam. Seither ist der Staubbach als Basejumpspot sehr beliebt. In den
folgenden Jahren passierten etliche tödliche Unfälle. Die
Bevölkerung hatte es verständlicherweise satt, dass
ständig in ihre Gärten gesprungen wurde. Vor allem wenn ab
und zu der Schirm nicht aufging.

Die Busse von 100 Schweizer
Franken, die kostenmässig in etwa mit dem Fallenlassen einer
Eisschraube gleichkommt, überzeugte uns aber nicht wirklich. Bei
den milden Temperaturen war aber auch der Versuch, unseren Umkehrpunkt
durch Abseilen wieder zu erreichen und das Material zu bergen, zu
gefährlich. Wir ergaben uns dem Schicksal der Eiskletterer, dass
der Traum auch sehr schnell wieder zu Wasser zerfliessen kann. Immerhin
konnten wir noch die letzte schwere Mixedlänge von unten
eröffnen.

Ein paar Tage später war es wieder
deutlich  kälter. So um die minus acht Grad, was für den
Staubbach aber immer noch fast zu warm ist, da die Mittagssonne
gefährlich aufwärmt und das viele Wasser ein Abschätzen
der Eisschlaggefahr fast unmöglich macht. Trotzdem versuchten wir
den kompletten Rotpunktdurchstieg von unten.

Im
Stirnlampenlicht durch die erste Eisslänge, Routine! Nach zwei
Stunden hatten wir die fünf Seillängen des Eisteils schon
hinter uns gebracht. Alles lief wie geplant, bis ich plötzlich den
Ausstiegszapfen in der Grösse eines Einfamilienhauses an uns
vorbeifliegen sah. Grosser Eisschlag war in der Mittelzone des
Staubbaches zwar nicht neu für uns. Oft hatte man den Eindruck,
dass der gesamte Wasserfall zusammenstürzen würde, solch
einen Lärm machten riesige abbrechende Stücke.
Dementsprechend hatten wir auch mit grösster Vorsicht die am
sichersten kletterbare Linie gewählt.

An diesem Tag
konnten wir alle Seillängen unseres Mixed Bigwalls bis auf die
letzte Ausstiegslänge rotpunkt klettern. Die letzte
Seillänge, eine sehr schöne M8-, bei der man an einen
freihängenden Zapfen klettert und über nochmals schwieriges
Eis den Ausstieg erreicht  war beim Einrichten nicht mehr das
Problem gewesen. Ohne das Eis, es fehlten ca. 20 Meter, waren wir in
der Sackgasse. Zum Glück hatten wir weiter unten ein Quergangseil
für den Rückzug hängen lassen. So schafften wir die
Abseilfahrt bei hereinbrechender Nacht. Unsere Stirnlampen konnte man
von Lauterbrunnen aus gut als tanzende Lichtpunkte erkennen. Man fragte
sich im Tal sicher, was für Verrückte da wohl am klettern
seien.

Drei Tage später, es war immer noch zu warm für
einen neuen Versuch ganz von unten, entschieden wir uns für eine
Fotosession mit Klaus Fengler, unserem Fotografen.

Von oben
seilten wir hinunter bis zum Ende des „Dirt-10 Querganges“
und kletterten beide den gesamten oberen Teil erneut rotpunkt. Der
Ausstiegszapfen war in den drei Tagen unglaublich gewachsen und wieder
kletterbar. Von M8- bis Unmöglich, und nun ca. M9-. Das alles in
einer Woche. Da wurde uns mal wieder die rasche Veränderung der
Schwierigkeiten beim Eisklettern so richtig bewusst.

Am
nächsten Tag noch mal dasselbe Spiel. Klaus hatte schon fast alles
im Kasten. Schlussendlich zum x-ten Mal die verflixte letzte
Seillänge. Das Eis war so durchnässt, dass ich nichts mehr
anbrennen lassen wollte  und nur ein paar Meter auf den Eiszapfen
und dann wieder zurück zum sicheren Bohrhaken kletterte. Dann
liess mich Markus wieder zum Stand herab. Gerade im Moment als ich das
Band ereichte, brach der gesamte Zapfen von selbst ab und schlug wie
eine Bombe eineinhalb Meter neben mir ein. Wie durch ein Wunder blieb
ich unverletzt .  Ein deutliches Zeichen, dass wir schon viel zu
viel Zeit in der Sperrzone verbracht hatten.

Siehe auch:
www.robert-jasper.de

QuelleText: Robert Jasper, Fotos: Klaus Fengler