Anekdote: Rotpunkt

RotpunktWir lagerten an der Südseite Afrikas und Benitas Decke leuchtete wie ein roter Punkt zu mir in die Felsen hinauf, als wollte sie die Sonne im Sand reflektieren. Aber der Sand war durchaus nicht warm, vom Fels ganz zu schweigen. Dazu stand die Sonne Ende September einfach zu flach und Wind und Wolken taten ein übriges ihre Kraft zu verringern. Vorsichtig setzte ich die nackten Füße auf kaltes Gestein, schob mich Meter um Meter der Sonne entgegen.

Wie lange war ich wohl nicht mehr barfuss im Sandstein geklettert? In jedem Fall war es Jahrzehnte her und die Füße waren es nicht mehr gewohnt. Aber was sollte ich machen? Als ich den Rucksack auspackte fehlten die Kletterschuhe. Offensichtlich hatte ich sie vor einigen Tagen im nahen Bielatal stehen gelassen.

Afrika … und nahes Bielatal? Spätestens jetzt muss es jedem klar werden, dass etwas nicht stimmt, obwohl formal alles seine Richtigkeit hat. Nur kletterte ich nicht in Afrika, sondern am Afrika-Turm in den tschechischen Tisaer Wänden. Dennoch hatte es etwas mit Afrika gemein, denn schon nach wenigen Touren brannten mir die Zehen, als wäre ich durch den Sand der Sahara gelaufen und meine Füße hätten jedem Schwarzafrikaner Ehre gemacht.

So hatten sie früher, als ich fast ausschließlich barfuss kletterte, konstant ausgesehen. Waschen hatte da kaum noch geholfen. Dicke Hornhaut bedeckte wie graues Sandpapier Zehen und Sohlen. Nur dort, wo lederne Knöchelschützer die Füße bedeckten, waren noch hellere Stellen. Schließlich gab ich das Waschen oft tagelang auf, man kletterte ja immer wieder. Also schlüpfte ich nachts in weiße Kniestrümpfe, um Schlafsack und Bett sauber zu halten. Ordnung musste schon sein.

Als ich den Knöchelschutz beim Klettern einmal vergessen hatte, hobelte es mir damals in einem Riss, den Außenknöchel des linken Beines fast weg. Das war nicht nur äußerst schmerzhaft, sondern ergab auch eine empfindliche und schlecht heilende Wunde. Kein Wunder, dass sie sich bei meinen damaligen Hygienevorstellungen schon bald entzündete und mir zu einer Blutvergiftung verhalf, die sich gewaschen hatte. Nur ich hatte das nicht!

Schließlich nahm mich mein Bruder, der Arzthelfer war, und mit dem ich gelegentlich kletterte, mit nach Dresden. Seine Frau, die als Krankenschwester arbeitete, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und beide waren sich klar darüber, dass ich sofort ins Krankenhaus musste. Weil mich aber so niemand behandelt hätte, nahm es schließlich meine Schwägerin auf sich mir Füße und Beine (nach entsprechender Weichzeit) zu waschen, wie seinerzeit Maria Magdalena die Füße des Herrn, der aber gewiss weniger schmutzig war.

Was dann im Krankenhaus im Einzelnen geschah, weiß ich heute nicht mehr zu sagen. Auf jeden Fall war der Knöchel total vereitert und die Sepsis der Blutbahnen verlief äußerlich sichtbar bereits bis zum Knie. In Erinnerung dessen hatte ich heute, also beim Klettern am Afrikaturm, von vornherein die Knöchel steril verbunden. Na, was man halt so machen konnte, mit einem aufgerissenen Verbandspäckchen, das im Rucksack seit etwa 5 Jahren schlummerte. Darüber hinaus hatte ich mir vorgenommen möglichst keinen Riss zu klettern und die Füße so kontrolliert wie möglich zu setzen. Galt nicht das Barfussklettern als die Hohe Schule sauberen Tretens?

Aber Wandklettereien in meinem Leistungsbereich waren hier begrenzt und so landete ich schon nach kurzer Zeit doch wieder in einem Faust- und Schulterriss der Schwierigkeit VI. Und siehe da, derselbe Knöchel wie vor Jahrzehnten, musste erneut daran glauben. Immerhin war es offensichtlich keine heikle Wunde und die Füße auch weniger schmutzig als anno dazumal, aber es reichte doch um den Verband zu durchbluten.

Mit der „Glatten Kante“ ging ich endlich meinen letzten Kletterweg an. Dabei bemerkte ich auf den schrägen Ausstiegsplatten plötzlich einen roten Punkt. „Nanu“ dachte ich, „werden Rotpunkt gekletterte Wege in Tschechien am Ausstieg markiert? Wurde hier Kurt Albert imitiert, der seine in einem Zug gekletterten Wege früher am Einstieg mit roten Punkten versah? Machte dieser rote Farbpunkt denn am Ende einer Tour überhaupt Sinn? Nach einem weiteren Schritt nach oben stellte ich verblüfft fest, dass da zwei Punkte waren; in einer Linie, etwa einen Meter voneinander entfernt. Es sah aus wie frische Farbe. Mit einem Male kam mir ein ganz bestimmter Verdacht. Genauestens betrachtete ich den letzten Klettermeter.

Es war reiner, unberührter Sandstein. Ein Schritt noch … und ich war am Gipfel. Als ich mich umdrehte war ein dritter Punkt da. Genau auf dem letzten Meter! Also bückte ich mich und fasste mit dem Finger danach – der Finger war rot. Erst jetzt wendete ich den linken Fuß mit der Sohle nach oben und stellte fest, dass die große Zehe eine einzige offene Wunde war. In Größe eines Eurostückes fehlte die Haut. Eigentlich klar, ohne die Hornschicht vergangener Jahre. Offensichtlich hatte der Adrenalinausstoß beim Klettern die Schmerzen verdrängt und mir mehrere Touren ermöglicht.

Zumindest diesen letzten Weg hatte ich dabei mit blutigen Punkten markiert und im wahrsten Sinne des Wortes „Rotpunkt“ geklettert.

Peter Hähnel (67 Jahre)
Klettert als Dresdner hauptsächlich in Sachsen.
Am 17. März wird er in der Felsenwelt des Elbsandsteingebirges sein 50-jähriges Kletterjubiläum feiern.

Siehe auch:
Anekdote: Fronleichnam
Anekdote: Freinacht
Anekdote: Im Kletterergarten
Climbing.de Anekdoten

QuelleText: Peter Hähnel