17 Stunden Gilching ? ein fiktiver Bericht

Es ist 7.00 Uhr morgens. Der Scheibenwischer quietscht. Wasserschneeflocken zerplatschen auf der Autoscheibe. Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos blenden mich. Als ich von der Autobahn abbiege, kann ich ihn erkennen: Ein angestrahlter roter Klotz im Dämmerlicht der Landschaft. Keine fünf Minuten später schiebe ich mich in der neuesten Halle Deutschlands mit Dutzenden von Wettkampfkletterern eine Treppe hinauf.

Großes Hallo, du startest auch? Franz ist da und Erich und Claudia, Umarmung. Registration. Eine freundliche Dame drückt mir ein schwarzes Muscleshirt in die Hand, das noch nach der Druckerfarbe der Werbeschrift riecht: „Die Startnummer ist zugleich auch dein Ausweis für das Essen beim Catering-Service“. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Ein handgemaltes Schild verkündet: „Frühstück ab 9.00 Uhr. Mittagessen ab 12.00 Uhr.“

8.31 h
Die Routen schauen alle sackschwer aus. Mein Nachbar: „die erste Quali ist auf Sicht glatt 8.“ Ich würge und bekomme nur ein tonloses: „Mindestens“ heraus. Die Halle macht einen freundlichen Eindruck, viel Platz, viel Tageslicht, viele unterschiedliche Wandstrukturen, draußen Schneegestöber. Ich würde hier gerne einen lässigen Tag auf der warmen Fußbodenheizung verbringen und ab und an einen souveränen Go durch die diversen Schrauberkunststücke orgeln. Stattdessen: schnell, schnell, aufwärmen! In 10 Minuten wird vorgeklettert. Immerhin drei Boulderräume stehen zur Auswahl. Endlich: die Startlisten. Der Latte Macciato macht mich munter. Der deutsche Meister persönlich zeigt wies geht. In sechs Routen gleichzeitig wird angeklettert. Die Kids sind verdammt stark.

Die zweite Jungsquali ist ne glatte 9. Wenn da einer hochkommt, Respekt. Der Moderator überschlägt sich. Ich bin dran. Und los geht’s, zefix, hab vergessen den Beutel aufzumachen, jetzt gibt’s kein Zurück mehr. Das ist mir noch nie passiert, ich muß mich jetzt voll konzentrieren! Das soll die Crux gewesen sein? Lächerlich! Scheiße, der Topgriff – ein schmieriger Sloper, ich kann nicht chalken und bekomm ne Nähmaschine in den Beinen. Versuch mich verzweifelt an einem Stück Seife festzuschrauben. Seil reinknallen- im selben Moment platze ich von der Wand ab. Puh, das war knapp.

ROCKGAMES GILCHING
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11.44 h
Endlich zum Frühstück. Im Konferenzraum riecht es noch nach Baustelle und … nach frischen Brötchen, juhu! Ich schlinge rein was geht. Die zweite Quali ist schon zapfiger. Wird schon gehen, rot ist meine Lieblingsfarbe. Einstiegsritual, neben mir wummern die Bässe aus dem Lautsprecher, der Spotter im Rücken: „Allez!“ Schnappen, ziehen, pressen, die erste Crux ist niedergerungen, es läuft ganz gut, ich bekomm ne Ruheposition hin, drei mal Schütteln, jemand ruft meinen Namen, „Auf!“.

Richtig, hier sterb ich den Schütteltot, das ist ne Falle, nur schnell weg hier! Mit Vollgas zieht es mich in die nächste Bosheit hinein, Pendler abhalten, Links-Rechts-Kombi, langsam laufen mir die Arme zu, ich kann nicht mehr, flieg raus. Draußen regnet es hässlich. Es wird Spaghetti a la Toskana gereicht.

17.10 h
Toni represents. Mein Blick gleitet übers weite Meer. Ich werde träge und rutsche in den Kutschersitz. Wellenrauschen streichelt meine Gehörgänge, Salzwassergeruch steigt mir in die Nase, Psicobloc ganz nah. Wann wird es wieder Sommer? Toni lockt mich in meine kleine autogene Zwischenwelt. Dort wo man die Zeit vergißt, bis Mittags ausschläft, am Ausstieg die Seele baumeln lässt, abends grillt und gemütlich in der Hängematte wegschnorchelt, während die Grillen zum hundertsten Mal ihre Symphonie zirpen.

18.10 h
Iso: 220 000 V auf 25 qm, trotzdem: locker bleiben! Aufs Klo kommt man nur mit Bewachung. Raus zur Besichtigung: Hat denn niemand ein Opernglas. Ich hätte jetzt gerne eins. Der orangerote Strukturgriff oben auf 12 m der interessiert mich. Geht da mehr wie die Fingerspitzen drauf? Ich habe exakt 6 Minuten Zeit um mir 52 Griffe und die zugehörigen Bewegungseinheiten einzuprägen. Meine innere Kamera hat auf Einzelbild umgestellt. Stiller Tanz der Hände, ein Anflug von Mystik. Hektik gegen Ende. Die Herde wird zurück in den Stall getrieben.

19.09 h
Der Stadionsprecher ruft meinen Namen aus. Wie ein störrischer Esel zerre ich an meinem Sicherer. Draußen herrscht inzwischen wieder schwarze Nacht. Ein kurzer, scharfer Blick auf die vermeintliche Crux. Darüber erkenne ich, dass eine Exe schwingt. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. So weit scheint mein Vorgänger gekommen sein! So weit will ich mindestens auch kommen! Magnesium rieselt vom Hallenhimmel auf meinen Kopf.

Und Start! Schon die ersten Züge bockhart, vom dritten Clip weg ein schmerzhafter Stellerdreck, im Dach gelingt es mir zu chalken, jetzt nicht zu hart werden, Spannung aufbauen aber nicht auspowern, Angriff, halbe Körperdrehung rechts, ein fieser Schnapper, Fuß nachholen, stabilisieren, Ruhepunkt, atmen, atmen, atmen! Ich muß runterkommen von diesen 180 Gilching-Herzschlägen pro Minute, das ellenlange Brett ist kein Boulder, ich muß in den Ausdauermodus umschalten, sonst mach ich hier keinen Stich.

19.33 h
Hunderte Augen verfolgen jede meiner Bewegungen. Der DJ fordert mich mit Prodigy zum Endspurt auf. Weiter geht’s. Chalkwischer, jetzt beißen, Schub zur Monsterbeule, Applaus branded auf, ich verhaspele mich, muß zwei abartige Tritte pressen um nicht rausgesprengt zu werden, ein paar Sekunden improvisiere ich mit Minimalbewegungen, mir schießt der Schweiß auf die Stirn, das ist meine ganz persönliche Crux und niemand feuert mich an, Stille im Saal, von außen betrachtet ist vermutlich nicht zu erkennen, daß ich in meiner Starre ums Ganze kämpfe?

Jetzt! gerade jetzt, bräuchte ich das Publikum! Kein aufmunternder Schrei von unten, nur Prodigy hämmert sein brutales Diesel Power. Kurz bevor ich wegschmiere versuche ich mich mit einem schlecht koordinierten Dynamo zu retten und… kann den Scheißer halten, tosender Applaus, endlich sie feuern mich wieder an, hier baumelt auch die Exe, der Abflugpunkt meines Vorgängers. Siegestrunken wie ich bin, pfeffert es mich zwei Züge weiter aus der Wand, werde ins Leere gesaugt, lande sanft im Seil und gehe in der tobenden Menge unter. Das war’s, kein Platz auf dem Treppchen. Aber ich bin zufrieden. Ich habe alles gegeben. Solche Tage sind einmalig.

20.04 h
Ein schöner Rücksack soll mein Weihnachtsgeschenk sein. DJ Vize gibt was auf die Ohren und ruft zum Freibier. Ciao Erich und der Rest. Um 24.00 Uhr verschwindet der rote Klotz hinter mir im Dunkeln. Wasserschneeflocken zerplatschen auf der Autoscheibe. Der Scheibenwischer quietscht. 17 Stunden Gilching.

Ohne Sponsoren – kein Wettkampf
Einer sehr engagierten Sponsorenschaft verdankt dieser Wettkampf viele wertvolle Sachpreise, die an 75 (!) von insgesamt 118 Wettkampfteilnehmer, also fast 2/3 aller Teilnehmer vergeben wurden.

Hier sind vorrangig Sport Schuster und die Sponsoren des Kletterfachverbandes (KVB) zu nennen: Druckerei Kriechbaumer, eon Bayern und Marmot. Außerdem gebührt noch den folgenden Sponsoren ausdrücklicher Dank: Kletter- und Hochtourenecke, Vertikal-Shop, Rumrich, Klettermagazin Climb, VauDe, Deuter, Basecamp, Krimmer. Hacker-Pschorr spendete das Freibier. Zu danken ist auch den Betreibern der Halle, sowie der ausrichtenden DAV-Sektion München.

Nils Schützenberger

Download:
Ergebnis Gilching (PDF)

Siehe auch:
www.kletterverbandbayern.de
www.alpenverein-muenchen-oberland.de
www.kletterzentrum-gilching.de






QuelleText: Nils Schützenberger, Fotos: Walter Treibel