Unser neues Konstrukt war um einiges härter geworden als die originale 8b+ und die Summe der Belastung entpuppte sich als großes Fragezeichen. Wieviele Stürze kann ich mir leisten, ehe es klappen muss? Wie fühlt es sich an im Kopf, wenn ich zweimal oder dreimal über die originale Länge hinausklettert bin und dann trotzdem abtropfe? Und was sagen die Unterarme zu den verbleibenden Seillängen wenn dieser Fall eintritt? Gehirnfasching also, und die Frage nach dem besonderen Anspruch einer Mehrseillängenroute beantwortet sich damit oft von selbst.
 
Aber bedeutet Anspruch auch Abenteuer?

"Alpines Sportklettern ist kein Jota mehr als jeder andere Leistungssport und der entscheidende Muskel ist natürlich der im Kopf" würde wohl der Sportsmann Güllich dazu sagen – wenn er es noch könnte. Und der eiserne Bonatti würde ausrufen: "Wie kann das Abenteuer hier bestehen, wo es keine Aufopferung, keine Einsamkeit und Abgeschiedenheit und keine Empfindung des Unmöglichen mehr gibt!" Abenteuer ist also woanders.

Nur wenige Aktive der jüngeren Generation wollen sich heutzutage dem Bergtod vor die gewetzte Sense stellen, sondern bevorzugen eher das akrobatische Spiel mit der Schwerkraft und suchen den Anspruch in der reinen Schwierigkeit. Sind die Menschen andere geworden in Zeiten von Advocard, Risiko-Lebensversicherung, Berufsunfähigkeitsversicherung und Verkehrsrechtsschutz? Wahrscheinlich schon. Denn selbst die Klientel, die heute in alpinen Klettergebieten anzutreffen ist, kann unter diesem Gesichtspunkt nicht mehr als Gruppe risikofreudiger Außenseiter angesehen werden.

Uns ist bewusst geworden, dass die Zeit der großen Abenteuer in den Alpen vorbei ist, und dass man mittlerweile sehr weit weg muss, um mal einen Tag lang keine Zivilisationsgeräusche zu hören.

Der 12. Oktober wurde letztendlich der Tag, an dem unsere Konzentration den Ansprüchen der acht Längen gerecht wurde, sodass wir abgekämpft und am Ende unserer Kräfte am Ausstieg der "Zahir" saßen. An diesem Tag sind wir nicht dem Tod von der Schippe gesprungen, sondern höchstens der Mautpolizei aus Gadmen von der Rechnung. Die schlich schon wieder verholen um unseren alten Kombi unten am Parkplatz herum und sucht das "Pickerl".
 
Es gibt keinen Zweifel: Das ist auch Abenteuer.

Jörg Andreas

P.S.: Thanks to
Mammut

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QuelleJörg Andreas, Fotos: Stefan Henny