Reclimbing the Classics: "Grand Illusion" (5.13c)

Als Tony Yaniro das erste Mal unter dem "Ding" stand, da wusste er: "Das ist der nächste Schritt, die neue Dimension der Kletterschwierigkeiten." Etwa zwölf Meter lang und neun Meter ausladend, eine V-förmige Verschneidung, die etwa 40 Grad überhängt und in deren Grund ein fingerbreiter Riss verläuft: "The Fracture Roof" ist die zweite Seillänge der Route "The Fracture" (5.10d) in der Ostwand des Sugar Loaf und wurde in technischer Kletterei bewältigt.

Fotostrecke: Mirko Caballero in Grand Illusion (5.13c)

Fotos: © Rainer Eder, Heinz Zak

Wenn dieses Ding" frei kletterbar wäre! Aber wie? Ist es ein Riss, ist es eine Verschneidung, sollte man klemmen oder piazen? Tony und seine Freunde rätselten lange, ehe sie die ersten zaghaften Versuche machten – aber der Name stand fest: "The Grand Illusion"!War es tatsächlich nur eine Illusion, dieses "Ding" frei klettern zu wollen? Der erste Versuch endete schon nach wenigen Metern – Sturz! Eigentlich hätte ihn sein Sicherungspartner umgehend zum Boden ablassen müssen – so verlangten es die strengen kalifornischen Kletterregeln: kein Anschauen oder Ausprobieren der nächsten Züge aus dem Seil hängend – "the devil is a hangdogger"!

Eigentlich heißt "hangdog" auf Deutsch nichts anderes als "armer Sünder" – und es ist ein nettes Wortspiel, dass derjenige, der wie ein Hund im Seil hängt, ein armer Sünder ist Regeln sind manchmal dazu da, um gebrochen zu werden – vor allem, wenn sie dich daran hindern, ein großes Ziel zu erreichen! Das sagte sich Tony auch, als er in "Grand Illusion" hing und im weitüberhängenden Verschneidungsriss nach den nächsten Klemmstellen suchte.

Sollte er sich schlecht fühlen, weil er ein "hangdogger" war? Nein, er wollte unbedingt "die große Illusion" zur harten Wirklichkeit machen – und dabei standen ihm die kalifornischen Kletterregeln im Weg. Wirf' sie über Bord, Tony!

Der Rest war harte Arbeit! Nach zwei, drei Versuchen am Tag war die Haut an den Fingern aufgerissen und an ein Klettern nicht mehr zu denken. Aber Tony war kreativ! Er baute sich zu Hause mit Holz die Klemmstellen nach – sozusagen "Grand Illusion home made" – und trainierte täglich die Belastungen, die das "Ding" verlangte.Kaum war die Haut verheilt, ging es wieder nach Lake Tahoe und ins "Fracture Roof", um wieder ein paar neue Meter zu erforschen und die Kletterzüge zu lernen. Jede Expedition erreicht irgendwann ihr Ziel – auch die Yaniro'sche Expedition ins granitne Niemandsland der "großen Illusion".

Nach vier Wochenenden beziehungsweise acht Klettertagen, an denen jeweils nur zwei bis drei Versuche möglich waren – dann war die Haut durchgeklettert -, stand der Durchstieg in greifbarer Nähe.Im Frühjahr 1979 – ein genaues Datum ist leider nicht bekannt – kletterte Tony dann das "Ding" am Stück, mit drei Sicherungspunkten, die er bei seinen Versuchen vorher angebracht hatte. Drei Sicherungen auf zwölf Meter – da musste er die letzten Meter ordentlich Gas geben und einen anständigen run out hinlegen. Ob damals, als Tony den Ausstieg erreicht hatte, ein lauter Schrei durch die Tannen über dem Lake Tahoe schallte, ist nicht überliefert

Eine neue Dimension der Kletterschwierigkeiten war erreicht! Yaniro kannte die schwierigsten Routen in Kalifornien, und er wusste, dass "Grand Illusion" weit schwieriger war als alles andere bisher Gekletterte – die Bewertung mit dem Grad 5.13+ war die logische Folge. Dass die kalifornische Klettergemeinde Verstöße gegen ihre Regeln mit Missachtung bestraft, ist das eine.Das andere war die Tatsache, dass die besten amerikanischen Kletterer eine Wiederholung versuchten – und scheiterten! Erst drei Jahre nach der Erstbegehung, im Herbst 1982, gelang die erste Wiederholung – wundert's jemanden, dass es wieder einmal jener Wolfgang Güllich war, von dem in so ziemlich jeder Folge der "Reclimbing the Classics" Serie die Rede sein muss.

Wolfgang musste sieben Tage Arbeit investieren, ehe ihm der Durchstieg gelang. Danach konstatierte er, dass "Grand Illusion" weit härter als die bekannten schwierigsten US Routen wie "Phoenix" (5.13a), "Cosmic Debris" (5.13a) oder "Equinox" (5.13a) sei. Da Güllich sämtliche schwierigsten Routen in Kalifornien wiederholt hatte, ist sein Urteil verlässlicher als alles Neidgeschwätz, das die Kalifornier über "Grand Illusion" kursieren ließen. Und er notierte in sein Tagebuch: "Die Symptome der totale Erschöpfung, wie Brechreiz, Schlaflosigkeit und Appetitlosigkeit, verstärkten in mir die Überzeugung, dass es sich hier mit Sicherheit um den X. Schwierigkeitsgrad handeln muss und um meine bisher schwierigste Kletterei – um die schwierigste Kletterei der Welt?"

Wenn das keine Ansage war! Und das sollte "Grand Illusion" viele Jahre lang bleiben. Erst als eine neue Generation von jungen amerikanischen Kletterern das moderne Sportklettern nach europäischem Vorbild adaptierten, wurde der Schwierigkeitsgrad 5.13c übertroffen."Grand Illusion" jedoch bleibt als Meilenstein in der Klettergeschichte bestehen – und als Zeichen dafür, dass man manchmal althergebrachte Regeln über Bord werfen muss, um Grenzen überschreiten zu können. Das "Ding" ist nie zur Modetour geworden – dafür verlangt es zu viel Arbeit.

Als der 13jährige Mammut Athlet Mirko Caballero im Frühjahr 2014 "Grand Illusion" kletterte, da wurde er bis an seine Grenze gefordert. Er sagt selbst, dass er die Sicherungen vorher legen musste, denn da er den gesamten Riss piazte, blieb keine Hand zum Legen frei.Mit Legen aller Sicherungen von unten während des Durchstiegs wurde "Grand Illusion" erst zweimal geklettert – vom Japaner Hidetaka Suzuki und vom Kalifornier Tommy Caldwell, eine OnSight Begehung hat es bis heute – 35 Jahre nach der Erstbegehung – immer noch nicht gegeben. "Grand Illusion" ist zwar harte Wirklichkeit geworden – für die meisten Kletterer wird sie immer eine große Illusion bleiben.

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QuelleAndreas Kubin, Fotos: Rainer Eder, Heinz Zak