Rückschau “Reclimbing the Classics”: Von Tabu-Brechern und Grenz-Gängern

Wer Grenzen überschreiten will, muss Regeln verletzen, Tabus brechen. Wer auf des Messers Schneide tanzt, kann abstürzen oder neue Dimensionen erreichen. Das Mammut-Projekt "Reclimbing the Classics", das die rasante Entwicklung des Sportkletterns zwischen 1979 und 1991 Revue passieren lässt, zeigt Tabu-Brecher, Grenz-Gänger und Grenz-Überschreiter - und die Mammut-Athleten, die auf den Spuren der besten Kletterer jener Zeit unterwegs waren...

1985: 8b oder X

Antoine le Menestrel, ganz Charmeur, schenkt Anna Stöhr eine Rose... (c) Rainer Eder
Antoine le Menestrel, ganz Charmeur, schenkt Anna Stöhr eine Rose…

“La Rose et le Vampire”: Was Jerry Moffatt zwei Jahre vorher während seines Europa-Trips gelang, machte 1985 Antoine le Menestrel in England. Nicht nur, dass er die damals schwierigste Route – “Revelation” (8a+, Raven Tor, erstbegangen von keinem Geringeren als Jerry M.) der Insel als erster wiederholte. Nein, paar Tage später kletterte er die Route auch noch free solo – die britische Kletterwelt staunte kopfschüttelnd über die tänzerische Eleganz von Antoine’s Kletterstil.

Der Tänzer in der Vertikale scheute sich ebenfalls nicht, ein Tabu zu brechen. Bei der Erstbegehung von “La Rose et le Vampire” “überbrückte” er eine grifflose Wandpassage, indem er zwei Grifflöcher modellierte und den heute weltweit bekannten Kreuzzug mit dem Rücken zur Wand kreierte – nur wer Grenzen überschreitet, findet zu neuen Horizonten.

Heute demonstriert Antoine mit seiner Tanztruppe Cie Lézards Bleus abstraktes Ballett in der Vertikalen – ein Grenzgänger, dem die Grenzen, die der natürliche Fels vorgibt, zu eng geworden waren… Anna Stöhr im legendären Kreuzzug von La Rose et le Vampir (8b) (c) Rainer Eder
Anna Stöhr im legendären Kreuzzug von “La Rose et le Vampir” (8b)

1986: 8b+ oder X+

Andrea Gallo erzählt von den guten, alten Zeiten in Finale Ligure, Jakob Schubert lauscht gebannt. (c) Rainer Eder
Andrea Gallo erzählt von den guten, alten Zeiten in Finale Ligure, Jakob Schubert lauscht gebannt.

“Hyaena”: Man muss schon ein ausgeprägter Felsfanatiker sein, um sich eine Route als Ziel zu setzen, von der man anfangs kaum einen Einzelzug klettern kann. Und man muss bereit sein, seine ganze Kraft und seinen Willen komplett auf dieses Ziel auszurichten. Als Andrea Gallo Anfang Januar 1986 den grau-überhängenden Felspfeiler von “Hyaena” am Massiv von Alveare entdeckt hatte, da drehte sich sein ganzes Denken nur noch um diese Linie.

Einzelstelle für Einzelstelle boulderte er aus, scheiterte immer wieder an den winzigen Griffen, die schon nach wenigen Versuchen die Haut schmelzen ließ wie Wachs in der Sonne. Abwarten, bis die Fingerspitzen verheilt waren und die nächsten Versuche setzen. Und als dann alle Züge entschlüsselt waren, brannte die heiße Sommersonne auf den Pfeiler und ließ keine Versuche mehr zu; erst im Dezember glückte dann der Durchstieg. Man muss ein bißchen “ver-rückt” im Wortsinn sein, um Grenzen zu überschreiten und neue Dimensionen zu finden – Andrea Gallo ist einer dieser Ver-rückten… Jakob Schubert klettert die untere Schlüsselstelle von Hyaena (8b+), Andrea sichert. (c) Rainer Eder
Jakob Schubert klettert die untere Schlüsselstelle von “Hyaena” (8b+), Andrea sichert.

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QuelleAndreas Kubin, Fotos: Rainer Eder, Gerd Heidorn