Sieben Züge für die Ewigkeit – Vor 39 Jahren sorgte ein Blitz für gewaltiges Donnern in der internationalen Kletterszene, das bis heute nachhallt. Im Mai 1978 eröffnete Ron Kauk mitten im Camp 4 im Yosemite Valley Midnight Lightning (7B+), den berühmtesten Boulder der Welt.
Oben der berühmteste Bigwall, unten der berühmteste Kletterer-Campground und mittendrin der berühmteste Boulder des Planeten: El Capitan, Camp 4, Midnight Lightning. Ohne dieses Dreigestirn wäre das Yosemite Valley nicht das berühmteste Klettergebiet der Welt! Dass in der Heimat von Bigwall-Mythen wie Nose und Salathé auch ein Boulder zur Legende wurde, ist jedoch nicht selbstverständlich. Schultert man im Camp 4 statt Haulbag sein Crashpad, kann es passieren, dass man von manchen „Helden der hohen Wände“ spöttische Sprüche zu hören bekommt.
Die verstummen aber augenblicklich, wenn man seine Matte am Fuß des riesigen und publikumswirksam mitten im Camp 4 gelegenen Columbia Boulders platziert – dort wo seit fast 40 Jahren ein aus Chalk gezeichneter Blitz den grauen Granit ziert. Dann versammelt sich schnell eine Zuschauertraube, flugs legen weitere Midnight Lightning-Aspiranten ihre Crashpads dazu.
„Dies ist einer meiner Klettertage, an den ich am öftesten zurückdenke.“
Der 29-jährige David Sjöquist, Mitglied des Mammut Pro Teams America, kletterte Midnight Lightning zum ersten Mal vor einigen Jahren.
„Es war mein erster Trip ins Yosemite, und meine Freunde freuten sich darauf, mir die Klassiker im Camp 4 zu zeigen. Ich hatte selbstverständlich schon viel von Midnight Lightning gehört und war ziemlich aufgeregt, diesen berühmten Boulder endlich versuchen zu können. Nachdem wir unsere Pads zurecht gelegt hatten, konnten wir ihn einer nach dem anderen durchsteigen. Dies ist einer meiner Klettertage, an den ich am öftesten zurückdenke.“
Seither fährt David regelmäßig ins Yosemite zum Bouldern, Midnight Lightning hat er inzwischen ein Dutzend mal geklettert.
Die Crux
Viele scheitern jedoch bereits am Einstiegsdyno zu einem schlechten Untergriff. Dann geht es mit links zu einer Leiste, von wo ein weiter Zug zum Doppelgriff in Form eines gezackten Blitzes führt.
Ist der Schwung abgefangen und die linke Hand dazusortiert, folgt ein Zug zur Lippe des kleinen Daches auf rund fünf Metern Höhe.
Hier wartet die Crux.
Wer beim Ausstiegsmantle nicht exakt die richtige Körperposition findet oder beim wackligen Aufrichter zaudert, wird sich nicht weit genug über den schmierigen Tritt schieben können, um den rettenden Henkel in der Platte zu erreichen.
Dann bleibt nur die Hoffnung, dass aufmerksame Spotter für eine einigermaßen sanfte Landung auf dem Crashpad sorgen.
Die Geburt einer Legende
Crashpads gab es 1978 noch keine, dafür reichlich kletterbesessene Hippies, die im Yosemite ihre Rebellion gegen die Gesellschaft am Fels auslebten.
Im Camp 4 waberten Marihuana-Wolken über den Zelten, den Lebensunterhalt verdiente man sich mit Gelegenheitsjobs.
Es war die goldene Ära des Freikletterns im Valley.
„Wir kamen Mitte der 70er-Jahre an und ließen uns von Royal Robbins, Yvon Chouinard und anderen großen Kletterern inspirieren. Dann merkten wir, dass es unsere Aufgabe war, den nächsten Schritt zu tun. Und bald ritten wir auf einer Welle, die uns von Erstbegehung zu Erstbegehung trug“, erinnert sich Ron Kauk.
Er und John Bachar waren die treibenden Kräfte dieser Bewegung.
„Du bist doch völlig durchgeknallt!“
John „Yabo“ Yablonski zählte nicht zu den Ausnahmekönnern, er machte mehr durch seinen Drogenkonsum und haarsträubende Free Solos am persönlichen Limit von sich reden. Eines Tages im Februar 1978 berichtete er Bachar und Kauk im LSD-Rausch von einem neuen Problem, das er entdeckt zu haben glaubte.
Sie gingen gemeinsam zum Columbia Boulder, wo Yablonski enthusiastisch nach oben auf vermeintliche Griffe zeigte. Kauk und Bachar brachen in schallendes Gelächter aus. „Du bist doch völlig durchgeknallt!“
„Es war der erste Boulder, bei dem wir ernsthaft spotteten.“
Nichtsdestotrotz versuchten sie sich an den ersten Zügen. Zu ihrer Überraschung machten Bachar und Kauk rasch Fortschritte, bald kamen sie bis zur Dachlippe. Doch dort war Schluss, und immer wieder traten sie den weiten Flug auf die harte, meist von zahlreichen Zuschauern umringte Granitplatte unter dem Block an.
„Es war der erste Boulder, bei dem wir ernsthaft spotteten“, erzählt Kauk lachend. „Ich bin aber nie unkontrolliert von der Lippe abgeflogen. Wir haben uns immer ein Stück hochgeschoben und sind abgesprungen, wenn es sich nicht mehr gut anfühlte.“
Mehr als zwei Monate nach den ersten Versuchen erreichte Kauk an einem Tag im Mai 1978 wieder einmal die Dachlippe. Alle Anwesenden rechneten damit, dass er erneut abspringen würde. Doch diesmal schob er sich weiter nach oben als je zuvor und erreichte mit rechts den Henkel. Unten herrschte ungläubiges Schweigen.
Die Zuschauer waren Zeugen einer Erstbegehung geworden, die das Bouldern in Amerika revolutionieren sollte. Der blitzförmige Griff und der Soundtrack der Protagonisten sorgten für den Namen: Midnight Lightning, nach einem Song von Jimi Hendrix. Urprünglich nur mit 5.12c – also 7b+ nach der französischen Routenskala – bewertet, gilt Midnight Lightning heute als harte V8 (Fb 7B+).
The Show must go on!
Kurze Zeit später schaffte John Bachar die zweite Begehung und malte den Chalkblitz auf den Fels. Zuvor war ihm bei einem Versuch ein kleines Horn am Untergriff der Dachlippe ausgebrochen, was den Boulder nicht schwieriger, aber eine etwas andere Handposition nötig machte. Dem Gerücht, Kauk sei wegen des Griffausbruchs wütend auf Bachar gewesen, tritt der Erstbegeher vehement entgegen.
„Ich fand es sogar cool, dass wir nun beide die Geschichte der Erstbegehung geschrieben hatten. Wir hatten den Boulder lang gemeinsam versucht, mir war er schließlich zuerst gelungen. Dann brach der Griff, und John kletterte Midnight Lightning erstmals mit der neuen Handposition. Eine schöne Symbolik für unsere Seelenverwandtschaft!“
Zahlreiche Kletterer versuchten sich an Midnight Lightning
Schnell machte die Nachricht von einem unglaublich harten Problem im Camp 4 die Runde, zahlreiche Kletterer versuchten sich an Midnight Lightning. Ohne Erfolg. Bachar und Kauk kletterten den Boulder dagegen immer wieder, Bachar fast täglich, oft mehrfach hintereinander, manchmal sogar auf und ab oder barfuß. „Wir haben immer gewartet, bis sich möglichst viele Leute versammelt hatten, dann war Showtime“, blickt Kauk schmunzelnd zurück. Erst fünf Jahre später konnte Skip Guerin als Dritter Midnight Lightning klettern, 1984 holte sich Jerry Moffatt die erste Begehung innerhalb eines Tages.
Die Messlatte wird immer höher gesetzt
Kaum hatte Midnight Lightning ein paar Wiederholungen erhalten, setzte Kauk 1984 die Messlatte mit Thriller (V10 oder 7C+) erneut nach oben. 1992 bescherte Moffatt dem Camp 4 seine ersten Probleme im Grad V11 (8A): Stick it und The Force. Ein Jahr später gelang dem Briten auch die erste V12 (8A+) des Yosemite, 2002 fügte Chris Sharma Moffatts Dominator noch einen Sitzstart im Grad V13 (8B) hinzu.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Midnight Lightning auch die ersten Frauenbegehungen erhalten. 1998 war Lynn Hill der Durchstieg gelungen, nachdem sie die Züge im Toprope einstudiert hatte. Die erste weibliche Begehung ohne vorheriges Auschecken mit Seil schaffte dann Anfang 2001 Lisa Rands.
Generation Inspiration
Was die Boulderschwierigkeiten anbelangt, hat sich seither nicht mehr viel getan im Yosemite. Dafür wurden weitere Gebiete erschlossen, und selbst heute gibt es noch Potenzial für neue Linien und sogar ganze Gebiete. Hauptschauplatz des Boulderns ist trotzdem nach wie vor das Camp 4. Obwohl viele der Klassiker schon ordentlich Speck angesetzt haben, ziehen Probleme wie Cocaine Corner (V5), Shiver me timbers (V6) oder Bruce Lee (V8) Kletterer aus aller Welt in ihren Bann. Auch wenn man eigentlich zum Bigwall-Klettern ins Tal gekommen ist oder es auf legendäre Risslinien wie Separate Reality und Astroman abgesehen hat, wird man sich dem Ruf der Blöcke im Camp 4 nicht entziehen können.
Für Jerry Moffatt spielt das Camp-4-Bouldern gar in der gleichen Liga wie Fontainebleau. „Es ist einfach toll, in einem Gebiet zu bouldern, das Geschichte hat. Alles fühlt sich klassisch an – und mehr Klassik als im Yosemite bekommst du in keinem Bouldergebiet!“ Man könnte ergänzen: Mehr Klassik als in Midnight Lightning bekommt ein Boulderer nirgendwo auf der Welt! Und selbst wenn die Leisten und Tritte inzwischen extrem poliert sind, bleibt dieser Boulder eine phänomenale Linie mit großartigen Moves und ein Meilenstein der Klettergeschichte. Geblieben ist ebenso die atemberaubende Schönheit des Yosemite Valley mit seinen gewaltigen, goldgelben Granitmauern und Wasserfällen über den Mischwäldern und Flussauen entlang des Merced River.
„Wir alle brauchen Inspiration – sie sorgt dafür, dass wir in Bewegung bleiben!“
Auch Ron Kauk ist dem Yosemite Valley treu geblieben. Heute lebt er direkt am Eingang des Nationalparks, seinen Lebensunterhalt verdient er als Geschäftsführer der Outdoorpädagogik-Organisation „Sacred Rok“, die sich um straffällig gewordene Jugendliche kümmert. Für den 59-Jährigen liegt die Essenz von Midnight Lightning darin, dass der Boulder eine Verbindung zwischen Kletterern herstellt – zeitlich und geografisch.
„Seit 39 Jahren treffe ich Leute aus allen Teilen der Welt, die hierher kommen, um Midnight Lightning zu klettern. Wenn ich sehe, welch großes Erlebnis das für sie ist, denke ich: Wow, welch eine Ehre, welch ein Privileg, dass ich der erste war, der dort ausgestiegen ist! Midnight Lightning ist ein Geschichtsfaden, der die Klettercommunity weltweit verbindet. Selbst wenn du den Boulder nie klettern können wirst, weißt du um seine Existenz, fungiert er als Inspiration, die dir Energie gibt, irgendetwas anderes zu tun. Wir alle brauchen Inspiration – sie sorgt dafür, dass wir in Bewegung bleiben!“
Bilder: Mammut/Rainer Eder