Es ist schon absurd: Da wird das Klettern, das vor allem mit und von Emotionen lebt, durch kalte Zahlen beschrieben! Schwierigkeitsgrade definieren sich in Zahlen – Zahlen sind Zeichen, Zeichen sind Marksteine. Marksteine markieren die zwölf Jahre, in denen das Klettern sich vom Grad X- bis zum Grad XI entwickelt hat.
Aber Zahlen sind kalte Zeichen – hinter diesen Zahlen verbergen sich Geschichten und Emotionen voller Leidenschaft. Kletterer, die sich an ihre besten Tage erinnern, und solche, die ihre besten Tage vielleicht noch vor sich haben, trafen sich und tauschten sich aus – wir haben davon erzählt, von Emotionen und von Leidenschaften, in dem Projekt “Reclimbing the Classics”…
1979: 5.13b/c oder 8a
Mirko Caballero (13) hängt gespannt an den Lippen von Tony Yaniro
“Grand Illusion”: Was tut ein kreativer Geist, wenn er von Barrieren eingeengt ist? Er sprengt die Ketten, die ihn daran hindern, das zu tun, was sein Traum ist. In diesem Fall brach Tony Yaniro das ungeschriebene Gesetz des kalifornischen Kletterns, dass das Einüben von Kletterstellen aus dem Hängen im Seil un”ethisch” sei. Was hat der Begriff “Ethik” mit Klettern zu tun? Rein gar nichts, denn es ist ein philosophischer Begriff, und Klettern ist alles andere als Philosophie (auch wenn manche das immer noch glauben…).
Tony’s Mut, sich über alle Regeln des kalifornischen Kletterns hinwegzusetzen, öffnete eine neue Dimension – das Tor zum X. Schwierigkeitsgrad. Und “Grand Illusion” blieb jahrelang die schwierigste Kletterroute auf der Welt – dank eines Tabu-Bruchs, der die Realisierung eines Traums erst ermöglichte…
Mirko Caballero in den komplizierten Sequenzen von “Grand Illusion” (5.13 b/c)
1983: X- oder 8a+
Jerry Moffatt hat Babsy Bacher eine Menge zu erzählen – nicht nur von “The Face”…
“The Face”: Als Jerry Moffatt auf seinem ersten Europa-Trip unterwegs war und in namhaften Klettergebieten seine Duftmarken hinterließ, da fiel manchem “Local” einfach nur die Kinnlade herunter. “Young Jerry” flashte eine Route nach der anderen – ganz gleich, wie schwer sie bewertet war. Gut, manchmal brauchte er auch zwei oder drei Versuche, aber das Wort “unmöglich” gab es für ihn scheinbar nicht.
Und nachdem er die schwierigsten Routen in den Top-Gebieten wiederholt hatte, machte er Erstbegehungen – nein, nicht lange daran arbeiten, sondern ein paar Versuche und fertig! So geschehen mit “Ekel” (IX+) und “The Face” (8a+) im Frankenjura oder mit “Papi on sight” (8a) in der Verdonschlucht. Jerry war ein Grenzgänger, der nicht lange zögerte.
Und so war auch sein Kletterstil: kompromisslos – entweder/oder. Und deshalb zählt er auch zu den großartigsten On-Sight-Kletterern seiner Zeit – Marksteine sind On-Sight-Begehungen von “Phoenix” (5.13a) im Yosemite Valley und von “Pol Pot” (7c+) in der Verdonschlucht, beide im Jahr 1984.
Babsy Bacher in den Schlüsselzügen von “The Face” (8a+); über ihrer rechten Hand die namensgebende Felsstruktur